1. Magazin
  2. Reportagen
  3. Indien: Die heilige Kuh

Indien

Indien: Die heilige Kuh

Eine (heilige) Kuh liegt auf einer Straße in der indischen Stadt Pushkar© Marben, Shutterstock · Ein vertrautes Bild im indischen Alltag

Die Kuh gilt in Indien als heilig. Doch zwischen Verehrung, Verboten und Realität entstehen vermehrt Spannungen. Wie gehen Tradition und Modernisierungsprozesse zusammen?

Lea Katharina Nagel, vom 15.10.2024

Die Ursprünge zwischen Hinduismus und Jainismus

Dass die Kuh in Indien heilig ist, ist weitläufig bekannt und trotzdem zeigt sich im Alltag, dass die "Verehrung" komplexer ist als es auf den ersten Blick scheint. Schon im letzten Jahrhundert ging der US-Amerikanische Anthropologe Marvin Harris "dem Kult um die Kuh" aus wissenschaftlicher Perspektive auf die Spur. 1965 veröffentlichte er den wegweisenden Artikel The Myth of the Sacred Cow – zahlreiche internationale Wissenschaftler folgten seinen Forschungen seitdem. Die Wurzeln der indischen Kuhverehrung verortet man in den Veden, die die Grundlage des hinduistischen Glaubens bilden. Die Veden, die erst ab dem fünften Jahrhundert schriftlich festgehalten wurden, thematisieren die Kuh als Versinnbildlichung des Universums und Mutter allen Lebens – sie steht für Fruchtbarkeit und Fülle, wird mit Reinheit und Ordnung assoziiert. Ihr gottgleicher Status wird zudem über eine Verbindung zu Vishnu abgeleitet, der neben Brahma und Shiva einer der drei Hauptgötter des hinduistischen Glaubens ist. Seine Inkarnation Krishna soll unter Kuhhirten aufgewachsen sein, gilt als Schutzpatron dieser Gruppe und wird selbst als „der Kuhhirte mit Flöte“ bezeichnet.

In Praxis und Alltag relevant ist eine Übernahme aus dem verwandten jainistischen Glauben. Der Jainismus verfolgt das Ideal der Nichtverletzung von Lebewesen und gilt als Inspiration für das auch aus den Yoga-Lehren bekannte Prinzip der Ahimsa, der Gewaltlosigkeit. Die Übertragung der Ahimsa auf die Kuh macht sie (aber letztlich auch jedes andere Lebewesen) zu einem unantastbaren Wesen, dessen Tötung streng untersagt ist. Das bedeutet auch, der Konsum von Kuh- und Rinderfleisch ist de facto verboten.

Tradition und Realität: Ein Spannungsfeld

Auch aus rein weltlicher und nutzenorientierter Perspektive ist der besondere Status der Kuh nachvollziehbar: Kuhdung ist in Indien ein wichtiges Heizmaterial und Dünger für die Äcker. Milchprodukte sind als Nahrungsquelle und in der Küche kaum wegzudenken, Häute und Horn verstorbener Tiere werden für die Lederproduktion verwendet. Als Last- und Nutztiere sind sie insbesondere für Kleinbauern in der Landwirtschaft überlebenswichtig und kaum eine Puja kann ohne Ghee, Milch, bzw. Joghurt stattfinden – sie gelten als rein und reinigend, sind beliebte Opfergaben. Indischer Bauer, der sein Feld in der Dämmerung mit zwei Kühen pflügt, Nebel und Berge im Hintergrund, © Susmit Das, Shutterstock

Es ist unmöglich auf dem Subkontinent dem "Thema Kuh" nicht zu begegnen, doch sichtbar ist nicht nur Achtung, sondern auch Verwahrlosung und Misshandlung im Alltag: Oft sind die Tiere abgemagert, ernähren sich von Abfällen und Müll. Zudem ist Indien einer der größten Rindfleischexporteure der Welt. Eine Antwort auf die Frage, wie das alles zusammengeht, ist: In Indien leben nicht nur Hindus und alte Prinzipien müssen sich im Zuge von Modernisierungsprozessen immer mal beweisen. Die hinduistischen Regeln haben staatliche und strafrechtliche Relevanz, und so sind Konflikte mit anderen Konfessionen, wie dem Islam, unvermeidlich: In Indien leben 180 Mio. Muslime, religiös betrachtet dürfen sie Rindfleisch essen, doch innerhalb der Landesgrenzen ist ein Vergehen an der Kuh unter Strafe gestellt. Zudem wird häufig kritisiert, in einem Land wie Indien, in dem ein großer Teil der Bevölkerung Armut und Hunger leidet, sei das anwendungspraktische Tötungsverbot von Kühen und Rindern nicht mehr zeitgemäß. Die Forderung nach einem säkularen Staat und einer säkularen Gesetzgebung werden lauter. Eingebracht werden sie von verschiedenen Seiten, von jungen Menschen, anderen Religionen, aber auch modernen Hindus und: sie finden allmählich Gehör. Einige Bundesstaaten wie Westbengalen und Assam erlauben mittlerweile die Tötung von Tieren über 14 Jahren. Muslime feiern den Geburtstag des Propheten mit einer Parade auf den Straßen Varanasi und halten sich an den Händen© Emily Marie Wilson, Shutterstock Die heilige Kuh ist nicht mehr nur religiöses Symbol, sondern zu einer gesellschaftlichen Causa geworden. Die Vereinigung von Modernisierungsprozessen und Religion ist keine leichte Aufgabe und holt Indien immer wieder ein.

Weitere interessante Reportagen

Topseller

@dumontreise Instagram