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Jerusalem
Mea She' arim: Zwischen Attraktion und Abschottung
Das ultraorthodoxe Viertel in Jerusalem ist eine eigene Welt, geprägt von Anachronismus, Tradition und Religion. Sein Ruf und Ruhm setzt sich zusammen aus Einzigartigkeit und Abschottung.
Lea Katharina Nagel, vom 18.10.2024
Das Viertel Mea She' arim befindet sich im nördlichen Teil der Altstadt Jerusalems. Gegründet wurde es 1874 nach dem Vorbild osteuropäischer jüdisch-orthodoxer Siedlungen. Mea She' arimbedeutet übersetzt Hundert Tore oder hundertfach und bezieht sich damit auf Genesis 26:12. Das Straßenbild sieht mittelalterlich aus. Man sagt dem Stadtteil nach, ein bewohntes Museum zu sein, das sich seit den Gründerjahren nicht stark verändert hat. Darin liegt etwas Wahres. Wäsche hängt zwischen Gassenbögen, in den Ecken liegt haufenweise Müll als wäre er achtlos aus dem Fenster geworfen worden. Die Wände der Häuser und Straßen sind gepflastert von Plakaten und Hinweisschildern. Sie sind das wenige Bunte, sonst ist es hier karg, wirkt spärlich und reduziert.
Auf den Straßen und in den Häusern Mea She' arims wird in der Regel Jiddisch gesprochen: eine nahezu tausend Jahre alte westgermanische Sprache, deren Wurzeln man im Mittelhochdeutschen verortet. Ihr Klang ist eigen, sie weist unter Anderem hochdeutsche, hebräisch-aramäische, slawische und englische Anteile auf und als Deutscher kann man meistens ein paar Fetzen verstehen. Nicht nur die Sprache unterscheidet sich, hier herrschen eigene Gesetze und zwar die der Thora. Das ist die Wahrheit, das wonach sich das Leben richtet – sogar die israelische Polizei hat hier nur bedingt „etwas zu melden“. Dem israelischen Staat entzieht man sich, verweigert ihn teils gänzlich und stellt gewissermaßen eine Opposition zum Zionismus dar: Der israelische Pass wird abgelehnt, überwiegend werden keine Steuern an ihn bezahlt, an Wahlen wird nicht teilgenommen.
© Rostasedlacek, Shutterstock
Striktes Alltagsleben
Etwa 1000 (Groß-)Familien leben hier, meist haben sie viele Kinder, die größtenteils abseits von moderner Technologie, moderner Kommunikation und moderner Weltanschauung aufgezogen werden. Es gibt keine Computer, Radios, Fernseher oder Zeitungen und Zeitschriften – öffentlich kommuniziert wird über Wandplakate Nahezu die Hälfte der Einwohner Mea She' arims lebt unterhalb der Armutsgrenze, bezieht Sozialhilfe. Das Familienleben ist geprägt von Religion und einer strikten Gesellschafts- beziehungsweise Geschlechterordnung: Männer widmen sich in ihrem Alltag bis zu zwölf Stunden am Tag den religiösen Studien. Im Durchschnitt kommt auf zehn männliche Bewohner Mea She' arims eine Synagoge. Ab dem Teenageralter tragen sie schwarze Anzüge mit weißen Hemden. Der Kopf wird von einem schwarzem, hohen Hut bedeckt, Schläfenlocken lugen hervor und auf den Straßen sieht man sie selten in Ruhe: Ihr Schritt ist geprägt von Hast und einer gewissen Dringlichkeit.
Die Frauen sind für Haushalt und Kinderbetreuung zuständig. Ihre Kleidung kann als keusch oder züchtig bezeichnet werden. Es sind meistens knöchellange Kleider und Röcke in dezenten Farben, häufig ebenfalls schwarz. Zudem fallen sie durch "erstaunlich" ähnliche Frisuren auf, denn die Verheirateten tragen Perücken, das Haar darunter ist kurz geschoren - so will es der Talmud. Die Geschlechterordnung ist strikt, öffentlich als Paar aufzutreten ist undenkbar, wo immer es Schlangen gibt, wird sich getrennt angestellt.
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Attraktion und Toleranz
Mea She' arim ist gelebte Abschottung, aber ebenso eine gewisse Attraktion. Fremden und Besuchern wird häufig mit Skepsis und Desinteresse begegnet. Nicht selten fühlt man sich als "unerwünschter Eindringling". In der Vergangenheit kam es von Seiten der Bewohner immer wieder zu Angriffen, wenn die Gesetzesgrenzen und Verhaltenskodizes des Viertels missachtet wurden. Verhält man sich jedoch dezent, taucht nicht in großen Gruppen auf und respektiert die Vorschriften, sind Probleme mit ihnen unwahrscheinlich – einen engen Kontakt kann man gemeinhin aber auch ausschließen. Bei Besuchen gilt für Männer das Tragen langer Hosen und bestenfalls einer Kippa. Bei Frauen, das von langen Röcken oder Kleidern, Schultern und Dekolletee sollten bedeckt sein und im Zweifel kann ein Kopftuch nicht schaden. Allgemein gilt: "No photos!". Das Viertel der Hundert Tore ist unbestritten ein besonderer, aber auch bedrückender Ort. Weckt Neugierde gleichermaßen wie innere Anspannung. Es ist zweifellos eine schwierige Frage, inwieweit das Bedürfnis der Bewohner Mea She' arims nach Rückzug und deutlicher Abschottung geachtet werden sollte. Doch das Viertel kann auch als Ausdruck von Toleranz verstanden werden, als Ausdruck davon, dass andere Lebensstile einen Raum haben.