Stirbt Venedig?

Das zweitgrößte Feuchtbiotop in Italien (nach dem Podelta) hat etwa die Größe des Bodensees. Es ist ein Zwischenreich, nicht Wasser, nicht Land: Sümpfe, Kanäle, Sandbänke und winzige Inseln, die zum Teil nur bei Ebbe übers Wasser schauen. Zwölf der Inseln sind bewohnt. Dort, wo Schiffe fahren, ist das Wasser 15 bis 20 Meter tief, ansonsten oft nur einen halben Meter. In der Lagune mischen sich Salzwasser und Süßwasser, ein idealer und seltener Lebensraum für Wasservögel, Fische und Pflanzen. Im südlicheren Teil gibt es zudem Fisch- und Muschelzucht. Drei größere Durchgänge führen durch die Lagune ins offene Meer hinaus. Durch diese flutet zweimal täglich die Adria, spült mit Salzwasser die Lagune durch. So entledigt sich Venedig bis heute seiner Abwässer, eine Kanalisation wird erst gebaut.

Nicht nur die Haushalte Venedigs verschmutzen die Lagune, sondern auch Abwässer und Abgase der Industrieanlagen, zudem führen tiefe Wasserstraßen für Supertanker durch die empfindliche Landschaft. Und da in Venedig mit Autos kein Staat zu machen ist, hält man sich ein flottes Motorboot. Auch sie tragen zur Zerstörung der Stadt bei, die schnellen Wellen peitschen den Mörtel aus den Häuserwänden und schaden Flora und Fauna.

An das Hochwasser, Acqua alta, hat sich Venedig nur scheinbar gewöhnt. Während es in den 1950er-Jahren noch etwa sieben Hochwassertage pro Jahr gab, sind es mittlerweile 54 pro Jahr. Steigt weltweit der Meeresspiegel weiter so an, steht in 50 Jahren an jedem dritten Tag Hochwasser in den Gassen von Venedig. Denn nicht genug, dass der Meeresspiegel ansteigt, Venedig sinkt, vor allem durch eine verstärkte Trinkwasserentnahme. Da stellt sich die Frage, ob man nicht einfach den Wasserspiegel der Lagune insgesamt absenken könnte. Doch wenn der Wasserstand zu niedrig wird, kommen die Lärchenstämme, auf denen Venedig gebaut ist, mit Sauerstoff in Kontakt, und dadurch beginnen sie zu faulen.© blickwinkel2511, Shutterstock

Um all diesen Problemen im Wortsinne einen Riegel vorzuschieben, legte man bereits im Jahr 2003 den Grundstein für M.O.S.E: Das „Modello Sperimentale Elettromeccanico“, ein „elektrotechnisches Versuchsmodell“, das die Abschottung der Lagune bei extremen Hochwassern in der Adria ermöglichen soll. Nach einem Testbetrieb im Jahr 2020, wurde das Projekt 2021 fertiggestellt, die Kosten beliefen sich auf rund 6 Mrd. Euro – jährliche Wartungsarbeiten von einigen Millionen Euro nicht eingerechnet. Es ist ein System von 78 Fluttoren, die vor den jährlichen Sturmfluten schützen sollen. Kritiker warnen jedoch vor den Folgen der immer wieder befristeten Absperrung der Lagune. Vor allem aus ökologischen Gründen: Einige Gebiete der Lagune sind von außergewöhnlicher Bedeutung für die Natur Europas – etwa zur Erhaltung wild lebender Vogelarten. Zu deren Schutz gingen bereits 2005 und 2007 schriftliche Mahnungen von Brüssel an die italienischen Behörden, die sich daraufhin zu einer Reihe von Maßnahmen zu Zeiten der Bauarbeiten verpflichteten. Die Störung der Vögel wurde durch gezielte Unterbrechungen so gering wie möglich gehalten. Zusätzlich führt die häufige Schließung der Fluttore zu ökologischen Problemen, da die Sedimentzufuhr in die Lagune gestört wird. Das beeinträchtigt wichtige Lebensräume wie z.B. die Salzwiesen, Die langfristigen Folgen für das empfindliche Ökosystem sind jedoch noch nicht absehbar.

Italiens Grüne halten den Abbau von Methangas vor der Lagune sowie den Verkehr der großen Tanker für die Chemieindustrie entlang der Küste für des Übels Kern. Neben einer Erhöhung der Gebäudefundamente fordern sie vor allem eine Öffnung alter Seitenarme an unbebauten Landstreifen der Lagune, um dadurch den Fluten wieder mehr Raum zum „natürlichen“ Ablauf zu geben.

78 hydraulische Fluttore, die am Grund der Adriazuflüsse verankert sind, jedes davon 30 Meter hoch, 20 Meter breit, fünf Meter dick und 250 Tonnen schwer. Im Normalfall liegen sie mit Wasser gefüllt am Meeresboden. Wenn in der Lagune ein Pegel von mehr als 1,10 Meter droht, können sie mit Druckluft innerhalb von einer Stunde leergepumpt und aufgerichtet werden, um so den Adriawellen den Weg in die Lagune zu versperren.

Forscher warnen schon jetzt davor, dass die Anlage aufgrund des ansteigenden Meeresspiegels und häufigeren, wie intensiveren Hochwasserereignisse an ihre Grenzen kommen wird. Gleichzeitig können einige Teile Venedigs auch bei niedrigeren Wasserständen – bei denen die Tore nicht hochfahren – überflutet werden. Das Projekt M.O.S.E ist vielen Venezianern ein Dorn im Auge. Befleckt mit Korruptionsskandalen, einer Bauzeitverlängerung von 10 Jahren und explodierenden Kosten, bleibt die Frage, ob es eine tatsächliche Rettung für Venedig ist, offen. Trotzdem gab es u.a. 2022 einen Erfolg zu verzeichnen: Der Betrieb des Hochwasserschutz-Systems konnte Venedig vor verheerenden Überschwemmungen schützen.