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Arles, Provence, Frankreich
Licht und Wahnsinn: Van Gogh in Arles
Vincent van Gogh fand in Arles Inspiration, aber auch innere Zerrissenheit. Auf den Spuren des Künstlers zeigt sich die Provence von ihrer schönsten und tragischsten Seite.
Lea Katharina Nagel, vom 26.11.2024
Die weiten Lavendelfelder, malerischen Küstenorte und historischen Dörfer der Provence inspirierten Künstler wie Pablo Picasso, Cézanne oder Marc Chagall. Auch Vincent Van Gogh, Mitbegründer der modernen Malerei und einer der bekanntesten niederländischen Künstler, verbrachte hier knapp über ein Jahr lang eine der spannendsten, produktivsten und schwierigsten Phasen seines Lebens.
Neubeginn in Arles
In seinen dreißiger Jahren – in einer Phase tiefer persönlicher Transformation – sehnte sich Van Gogh nach Helligkeit, Licht und Farbe. Belastet von starken psychischen Beschwerden und überwältigt von der Hektik in seinem Wohnsitz Paris wünschte er sich Ruhe und inneren Frieden. Die grauen Töne Nordeuropas zehrten an ihm und er erwog mehrere Orte für eine neue Heimat im Süden, verwarf jedoch die meisten der Ideen wieder. Letztlich, motiviert durch den Wunsch nach künstlerischer Inspiration und einem angenehmeren Klima, entschied er sich für Arles in Südfrankreich und brach am 19./20. Februar 1888 dorthin auf.
Arles war damals ein Ort mit typischem Kleinstadtcharakter, das tägliche Leben war von der Landwirtschaft geprägt und – trotz der geringen Größe – existierte in Cafés und Galerien eine lebendige Kulturszene. Die historische Bedeutung während des Römischen Reiches und die malerische Lage an der Rhone zog nicht nur Künstler und Intellektuelle, sondern auch schon damals "Touristen" an. Die engen Gassen, der Duft von frischem Lavendel und gebackenem Brot, das goldene Licht der Provence und die warme Mittelmeerluft – all das trug dazu bei, dass Van Gogh sich entschied, in Arles nicht nur einen Zwischenstopp einzulegen, sondern sich niederzulassen und seinen lange gehegten Traum von einer Künstlerkolonie zu verfolgen.
© Stefy Morelli, Shutterstock
Kreativer Höhenflug
Wie erhofft, inspirierte Van Gogh die Umgebung der Provence, er war außerordentlich produktiv und seine Zeit in Arles gilt heute als eine der fruchtbarsten seines gesamten künstlerischen Daseins. Obwohl er nur etwas über ein Jahr hier verbrachte, entstanden rund 200 Gemälde. Darunter weltberühmte Werke wie die Sonnenblumen-Serie, Das Nachtcafé, Sternennacht über der Rhône oder Schlafzimmer in Arles. In Arles wurde Van Gogh mutiger und freier in der Art sich in seiner Kunst auszudrücken: Er trug Farbe dick und mehrmals auf, ließ Pinselstriche auffällig sichtbar, erzeugte Dynamik. Die unterschiedlichen Farbschichten und scheinbare Bewegung ließen seine Bilder schließlich dreidimensional, skulptural wirken. Einen stilistischen Kontrast dazu bilden die Werke, die durch sein wachsendes Interesse an japanischen Drucken beeinflusst wurden. In Arles hatte Van Gogh Zeit, sich mit der fernöstlichen Tradition tiefer auseinanderzusetzen, war fasziniert von der Klarheit, Einfachheit und Direktheit der japanischen Kunst. So übernahm er in zahlreichen Werken die zweidimensionale Raumgestaltung, bediente sich lebendiger, heller Farben, setzte klare Konturen. Auch seine gewählten Motive – oft waren es Szenen aus der Natur und dem Alltagsleben – orientierten sich daran. Und so löste sich Van Gogh von den dramatischen, düsteren und emotional intensiv geladenen Themen seiner frühen Periode und wandte sich zunehmend der Darstellung der einfachen Schönheit des Alltäglichen in seinen Gemälden zu: Eine Vase auf dem Küchentisch, eine Reihe von Zypressen, Bauern bei der Arbeit auf dem Feld – seine Kunst zu dieser Zeit vermittelt eine aufrichtige Wertschätzung für die Welt, die ihn umgibt.
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Kampf gegen die Dunkelheit:
Obwohl Van Gogh in Arles beispiellos intensiv und kreativ arbeitete, war sie doch gleichzeitig auch eine Phase tiefer persönlicher Krisen und psychischer Instabilität: Trotz der ihn umgebenden Schönheit und Lebendigkeit der Provence, offenbaren viele Werke auch ein Gefühl von Einsamkeit und Isolation, lassen Unruhe inmitten von Friedlichkeit erkennen und vibrieren von unterschwelliger Spannung.
Die Variationen in seinem Stil zu dieser Zeit sind zum Teil ein Spiegel seiner psychischen Schwankungen – manche zeigen eine fast manische Energie, andere sind nachdenklich und melancholisch. Der berühmte Vorfall, bei dem sich Van Gogh allem Anschein nach selbst ein Ohr abschnitt, ist wohl einer der direktesten Hinweise auf die Ernsthaftigkeit seiner psychischen Krisen. Es war der Höhepunkt einer Reihe von Zusammenbrüchen und geistigen Problemen in den Monaten in Arles und kann im Kontext seines Bedürfnisses nach einer künstlerischen Gemeinschaft gesehen werden.
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Der Traum einer Künstlerkolonie
Dieses Bedürfnis, das ihn erst gen Süden aufbrechen ließ, veranlasste ihn schließlich auch im Mai 1888 ein Haus an der Place Lamartine zu kaufen und damit den Grundstein der bekannten Gelben Haus Gemeinschaft zu legen. Für die Realisation lud Van Gogh mehrere Künstler ein, sich ihm anzuschließen. Darunter seinen jüngeren Bruder Theo, mit dem ihn ein vertrautes Verhältnis verband sowie Émile Bernard. Lange schon hatte er das ehrliche Bedürfnis nach künstlerischem Austausch, aber auch nach persönlichem Verständnis und Akzeptanz. Eine Schlüsselrolle in der Gelben-Haus-Konstellation nimmt Paul Gauguin ein, für den Van Gogh tiefe Bewunderung empfand – er betrachtete ihn als Mentor und Gleichgesinnten und so bestanden seinerseits große Erwartungen als Gauguin im Oktober in Arles ankam. Doch bald schon führten unterschiedliche Ansichten in Persönlichkeit, Philosophie und Arbeitsweise zu Spannungen und eskalierten in der dramatischen Selbstverstümmelung am Vorweihnachtsabend 1888. Obwohl das Projekt letztlich scheiterte und sich Van Goghs Zustand kontinuierlich verschlechterte, hinterließ die gemeinsame Zeit unverkennbare Spuren in seinem Nachlass – in dieser Zeit entstanden Arbeiten, die zu den bedeutungsvollsten der Kunstgeschichte gehören.
Van Goghs Erbe: Eine Stadt im Zeichen des Künstlers
Als Van Gogh Arles am 8. Mai 1889 verließ, blieb ein Teil seiner Seele wohl hier – der Geist des heute als verrückt geltenden Malers durchdringt die Stadt noch immer. Das ursprüngliche gelbe Haus, das am 24.06.1944 im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, lebt in seinen Gemälden weiter, sie zeigen sowohl Fassade als auch Einrichtung und vermitteln ein Gefühl seiner damaligen Lebenswelt. An der Place Lamartine, einer einst zwielichtigen Ecke der Stadt, erinnert heute eine Gedenktafel an die historische Bedeutung des Ortes. Obwohl damit ein zentraler Teil von Van Goghs Leben in Arles verloren gegangen ist, bleibt er und seine unverwechselbare Kunst überall präsent. Der Van-Gogh-Weg führt interessierte Spaziergänger zu verschiedenen Orten, die in seinem Leben und Werk eine Rolle spielten, einschließlich des ehemaligen Cafés an der Place du Forum, der Brücke von Langlois, dem Rhônekai und der alten Mühle in der Rue Mireille. Die 2010 neu gegründete Van-Gogh Foundation und lokale Museen wie das Museé Réattu zeigen immer wieder Ausstellungen zu Ehren des Künstlers.
© tichr, Shutterstock
Van Goghs Einfluss ist aus dem Stadtbild des heutigen Arles nicht mehr wegzudenken und so sieht man in Restaurants Gemäldereplikationen oder Dekoration, die an Motive in seinen Werken erinnern. Mal durchdringend, mal nachdenklich blickt sein Portrait von Postkartenständen oder modernen Interpretationen á la Street Art. Vincent van Gogh ist in Kunst, Kultur und dem täglichen Leben der Stadt allgegenwärtig. Er bleibt eine zentrale Figur, ein Mysterium, das Einheimische und Besucher weiterhin faszinieren wird.