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Oslo, Québec, Vermont
Literatur ohne Grenzen: Bibliotheken, die neu denken
Abseits prächtiger Klassiker gibt es Bibliotheken, die durch Ideenreichtum glänzen: In Norwegen, Nordamerika und Kenia entstehen Orte, die Literatur für künftige Generationen bewahren, Kulturen verbinden und Wissen mobil machen.
Lea Katharina Nagel, vom 12.11.2024
Eindrucksvoll anzusehende Bibliotheken gibt es auf der ganzen Welt. Rankings und Listen über die "schönsten" oder "spektakulärsten" Bibliotheken Deutschlands, Europas oder der der Welt finden sich massenhaft. Meistens fallen die ausgezeichneten Orte durch Größe, Weltruhm und eine gewisse Opulenz auf: Durch jahrhundertealtes Eichenholz oder eine Menge Gold, durch gigantische historische Bestände oder eine besonders futuristische Architektur. So ist die Stiftsbibliothek in St. Gallen ebenso sehenswert wie die Old Library des Trinity College in Dublin oder The George Peabody Library in Baltimore. Zwischen diesen Schwergewichten gibt es unbekannte, ungewöhnliche Bibliotheken, die weniger durch Presserankings als eine besondere Perspektive auf das Konzept Bibliothek hervorstechen. Drei innovative Projekte aus Norwegen, Nordamerika und Kenia verfolgen dabei eine ganz eigene Vision.
Future Library Project, Oslo
Kunstprojekt, Vernetzungsvision oder Bibliothek? Hier ist alles zutreffend. Die Future Library ist ein Projekt, das 2014 von der schottischen Künstlerin Katie Parson initiiert wurde. Die Idee dahinter: Jedes Jahr reicht ein anderer Autor ein Manuskript ein, das bis zum Jahr 2114 niemand zu Gesicht bekommen soll. Diese Manuskripte werden bis zu 100 Jahre in der Stadtbibliothek Oslo aufbewahrt. Das Papier, auf das sie schließlich gedruckt werden sollen, wächst derzeit in der Nordmarka, in der Nähe von Oslo, heran – 1000 Bäume wurden hier 2014 gepflanzt. Parson verfolgt die Vision, den Kreislauf der Dinge zu visualisieren, doch ebenso setzt sie einen stillen Protest gegen die Schnelllebigkeit der Gesellschaft und schafft eine Hommage an die Zeitlosigkeit von Literatur. Der Bücherwald der Future Library ist ein Geschenk an zukünftige Generationen, die noch nicht geboren sind. Derzeit liegen Manuskripte u.a. von David Mitchell, Margaret Atwood und Karl Ove Knausgård vor.
Haskell Free Library and Opera House, Québec/Vermont
Grenzgänger: Die Haskell Free Library and Opera House wird gerne die einzige Bibliothek in den USA ohne Bücher und das einzige Opernhaus in den USA ohne eine Bühne bezeichnet. Das 1904 vom amerikanisch-kanadischen Ehepaar Haskell geschaffene Projekt verfolgt das Ziel, Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu verbinden, indem sie eine Bibliothek und ein Bühnenhaus gebaut haben, das mitten auf der amerikanisch-kanadischen Grenze liegt. Die Institution spielt mit dem Konzept der Grenze. Mit Gefühlen wie Nervenkitzel, Anspannung und Entfremdung, die das Passieren von Landesgrenzen begleiten. Sie entmystifiziert und hinterfragt das Konstrukt von Grenzen, Abgrenzung und damit einhergehender gesellschaftlicher Spaltung. Das verbindende Element von Kunst und Wissen war es, das den Mäzenen vor über hundert Jahren vorschwebte und in dem Gebäude in Québec/Vermont seine zeitlose Manifestation findet. Eine dicke schwarze Linie, die quer hindurch führt, symbolisiert die internationale Grenze. Der Eingang liegt auf der US-Seite, Gäste, die aus Kanada kommen, dürfen offiziell ohne Reisepass oder Zoll-Kontrollen hinüberschlüpfen. Das relativ unscheinbare Gebäude im viktorianischen Stil und verfügt über einen Bestand aus 20.000 Büchern in französischer und englischer Sprache.
https://www.haskelloperahouse.org
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Camel Library Service, Kenia
Die Future und Haskell Free Library begrüßen ihre Gäste mit offenen Türen – im Fall der kenianischen Kamelbibliothek sieht das anders aus. Hier existieren weder Türen noch Tore, was jedoch weniger an Verschlossenheit lag, als in der Natur der Sache. Denn, bei den Mobile Library Services der KNLS, dem kenya national library service, kommen nicht die Menschen zu den Büchern, sondern die Bücher zu den Menschen – ursprünglich per Kamel. Fernleihe auf vier Beinen sozusagen. Sie wurde 1996 mit dem Ziel gegründet, die entlegenen Nomadendörfer im Osten des Landes, vorwiegend in der Region Garissa, mit Lesestoff zu versorgen. Das Projekt wurde aus der Not heraus geboren, denn die Bibliothek der Provinzhauptstadt hatte schlicht zu wenig Kundschaft. Insbesondere erreichte man zu wenig junge Leser und Leserinnen. So wurden vier bis fünfmal die Woche eine Hand voll Kamele mit jeweils zwei Kisten á hundert Bücher beladen und - samt Führer - buchstäblich in die Wüste geschickt. Bildung und die Freude am Lesen sollte kein Privileg der Städter und unabhängig der sozialen und kulturellen Herkunft sein. Bei der Kamelbibliothek Kenias hat sich das Rad der Zeit mittlerweile weiter gedreht – die Kamele wurden durch Motorräder ersetzt, Sinnhaftigkeit und Vision bleiben.
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